Inklusion als Ausweg aus der Armut
Für ihr Kind, das mit einer Beeinträchtigung geboren wurde oder diese während der ersten Lebensjahre entwickelte, eine Schule zu finden, ist für viele Eltern aus dem Armenviertelring rund um die peruanische Hauptstadt Lima eine nachgerade unlösbare Aufgabe. Tausende Mädchen und Jungen, deren Eltern nicht über die Mittel für eine teure private Einrichtung verfügen, bleiben ohne Förderung, ohne Chancen, jemals teilhaben und ihre Potentiale entwickeln zu können.
Der Kindernothilfepartner Aynimundo engagiert sich seit Jahren für die Rechte von Kindern mit Behinderungen und die Unterstützung ihrer Familien. Über das aktuelle Projekt einer Schule für Kinder mit und ohne Behinderung und die jüngsten Pläne zur Armutsbekämpfung berichten Ilse Kreiner, Verónica Rondón und Cristina Higa aus Lima.
Verónica Rondón: Wir haben in diesen zurückliegenden 23 Jahren gelernt, immer unter Krisenbedingungen und mit politischen und ökonomischen Widrigkeiten zu arbeiten. Auf bessere Zeiten zu warten, bringt nichts. Von diesem Projekt einer inklusiven, humanistischen, demokratischen Schule haben wir so viele Jahre geträumt! Als uns jetzt die Möglichkeit angeboten wurde, auf dem gleichen Terrain in Chorillos, auf dem wir Ende 2022 die Bauarbeiten an dem neuen Aynimundo-Therapiezentrum für 230 Kinder und Jugendliche und ihren Familien abschließen konnten, eine inklusive Schule einzurichten, mussten wir einfach zugreifen! Für uns ist es angesichts des notorischen Fehlens von Bildungs- und Förderangeboten für Kinder mit Behinderungen in den ärmeren Vierteln hier im Süden von Lima einfach konsequent und logisch, dass wir diese Herausforderung annehmen!
Cristina Higa: Ein ganz starke Antriebsfeder, uns auf diese Aufgabe einzulassen, ist das, was uns die Eltern der Kinder, mit denen wir therapeutisch arbeiten, sagen: Sie schildern uns, wie oft sie abgewiesen werden, wenn sie in einer Schule im Viertel nach einer Möglichkeit suchen, um ihre Kinder einschreiben zu können. Und, falls es dann doch gelingt, kann von einer inklusiven Förderung ganz oft keine Rede sein. Die Lehrerinnen und Lehrer sind vielfach völlig überfordert, diesen Mädchen und Jungen mit ihren besonderen Bedürfnissen gerecht zu werden, die Klassen zu groß, die Ausstattung der Schulen zu prekär und viele der anderen Eltern aggressiv-ablehnend. Deshalb wollen wir – ähnlich wie durch das Therapiezentrum – deutlich machen: Ein anderes, Kinderrechte-basiertes inklusives Arbeiten mit Mädchen und Jungen mit und ohne Beeinträchtigungen ist nicht nur möglich, sondern wird als Modellprojekt auch auf andere Schulen ausstrahlen! Was uns unserer Sache so sicher macht, ist nicht zuletzt die jahrelange professionelle Erfahrung unseres Teams.
Verónica Rondón: Genau diese bitteren Erfahrungen haben uns gezeigt, dass es am Ende doch möglich ist, eben nicht in die Korruptionsfalle zu tappen, uns nicht erpressen zu lassen, sondern hartnäckig zu unseren Werte wie ethisches Handeln, Transparenz und Professionalität zu stehen. Dabei sind wir nicht allein: César, ein langjähriger Kollege aus dem Aynimundo-Team, arbeitet jetzt seit drei Jahren im peruanischen Erziehungsministerium. Er und viele andere engagierte Menschen - auch in staatlichen Institutionen - ermutigen uns, mit der Kraft unserer Argumente und unserer Expertise für unser Konzept zu kämpfen und uns bei der Beantragung der notwendigen staatlichen Genehmigungen nicht erpressen zu lassen.
Cristina Higa: All die Jahre über haben wir gesagt, dass ohne die aktive und kontinuierliche Mitwirkung der Familien die Therapiearbeit mit den Kindern nie ihre volle Wirkung entfalten wird. Trotzdem gab es immer wieder Familien, die nicht mitgearbeitet haben. Wir mussten aber lernen, dass die notwendigen Veränderungen in der Familie stattfinden müssen! Die qualitativ tollste Arbeit im Projekt mit den Kindern funktioniert nicht, wenn am Ende die Familien nicht davon überzeugt sind, dass sie die Entscheidungen fällen und die Verantwortung tragen. Das ist auch eine Riesenherausforderung für uns als Team: Immer wieder ertappen wir uns dabei, den Eltern und Familienangehörigen Entscheidungen ab- und statt ihrer Verantwortung zu übernehmen. Nichts ist in unserem Beruf so schwierig, wie sich von assistentialistischen Praktiken zu lösen. Wir haben deshalb für uns als Team externe Unterstützung gesucht, um hier bewusster zu arbeiten, zu lernen, konsequent zu sein, wenn wir sagen: Unser Ansatz ist familienzentriert - aber unsere Rolle ist nicht die von Ersatzeltern, sondern die von Ermutigerinnen, Befähigerinnen.
Ilse Kreiner: Das ist manchmal richtig schwer! Ich habe hier bei Aynimundo gelernt, wie wichtig es ist, nicht vorschnell irgendwelche Ratschläge zu geben, sondern mich auch in Situationen zurück zu halten, in denen ich glaube, zu wissen, wie es geht. Aber wir können das trainieren. Zu der Herausforderung, den Teufelskreis des Assistentialismus zu durchbrechen, zu erreichen, dass die Menschen, mit denen wir arbeiten, sich nicht von uns abhängig fühlen, sondern sich ihrer Potentiale bewusst sind, gehört auch noch ein anderer Aspekt: Die Kinder und Jugendlichen im Projekt zu bestärken, selbst Entscheidungen zu fällen und innerhalb ihrer Familien eine andere Rolle zu spielen.
Wie kann das konkret funktionieren?
Ilse Kreiner: Ich habe vor ein paar Tagen in einem Workshop mit schwer behinderten Kindern und Jugendlichen eine faszinierende Erfahrung gemacht: Wir haben uns in einer Gruppe mit sieben jungen Menschen mit Pizzabacken beschäftigt. Während ansonsten bei diesen Kursen Eltern mit dabei sind und die Kinder bei jeder Frage, jeder Aktion darauf warten, dass die Erwachsenen für sie Entscheidungen fällen, haben wir diesmal gesagt: Liebe Eltern, lasst uns das mal alleine machen, wartet draußen. Und es hat hervorragend funktioniert, die Mitglieder der Gruppe entschieden untereinander, wie die einzelnen Arbeitsschritte aussehen sollen, wer was macht, was auf die Pizzen draufkommt. Wenn es nicht mit Worten ging, arbeiteten wir mit smileys. Auch die beiden Kinder mit den stärksten Beeinträchtigungen waren konzentriert bei der Sache. Mir ist in dieser spielerischen Situation klar geworden, wie wichtig es ist, dass wir Erwachsenen lernen, auch loslassen zu können, den Helikopter im Hangar stehen zu lassen. Diese andere Art von Verantwortung, von der wir sprechen, bedeutet: Erst, wenn ich definiert habe, was ich brauche, kann ich Hilfe erbitten, aber eben nicht vorher! Und, was gar nicht geht, ist, dass wir als die Mitarbeitenden im Projekt für die Menschen, die hierherkommen, entscheiden, was sie benötigen.
Von Jürgen Schübelin
Der Sozialwissenschaftler leitete 21 Jahre das Kindernothilfe-Referat Lateinamerika und Karibik. Auch im Ruhestand engagiert er sich weiter für Kinder und ihre Rechte.
Ilse Kreiner ist studierte Physikerin und pensionierte Betriebswirtin aus Perchtoldsdorf in Niederösterreich, die sich seit fünf Jahren regelmäßig im Rahmen des Kindernothilfe-Lern- und Freiwilligenprogramms bei Aynimundo engagiert, um mit Müttern von Kindern mit Behinderungen zu arbeiten. Dabei geht es ihr vor allem darum, kreative einkommensschaffende Initiativen zu unterstützen, mit denen die Frauen für sich und ihre Kinder den Lebensunterhalt sichern können.
Verónica Rondón ist Architektin und gründete 2001 die Nichtregierungsorganisation Aynimundo mit, die seit 17 Jahren Kindernothilfepartner in Perus Hauptstadt Lima ist.
Cristina Higa ist Koordinatorin des Inklusionsprogramms von Aynimundo,