Kindernothilfe Österreich. Kindern Zukunft schenken.

Inklusion als Ausweg aus der Armut

Für ihr Kind, das mit einer Beeinträchtigung geboren wurde oder diese während der ersten Lebensjahre entwickelte, eine Schule zu finden, ist für viele Eltern aus dem Armenviertelring rund um die peruanische Hauptstadt Lima eine nachgerade unlösbare Aufgabe. Tausende Mädchen und Jungen, deren Eltern nicht über die Mittel für eine teure private Einrichtung verfügen, bleiben ohne Förderung, ohne Chancen, jemals teilhaben und ihre Potentiale entwickeln zu können.

Der Kindernothilfepartner Aynimundo engagiert sich seit Jahren für die Rechte von Kindern mit Behinderungen und die Unterstützung ihrer Familien. Über das aktuelle Projekt einer Schule für Kinder mit und ohne Behinderung und die jüngsten Pläne zur Armutsbekämpfung berichten Ilse Kreiner, Verónica Rondón und Cristina Higa aus Lima.

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Beeinträchtigte Kinder haben genau wie gesunde Kinder das Recht auf Schule (Foto: Kindernothilfepartner)
Beeinträchtigte Kinder haben genau wie gesunde Kinder das Recht auf Schule (Foto: Kindernothilfepartner)
Beeinträchtigte Kinder haben genau wie gesunde Kinder das Recht auf Schule (Foto: Kindernothilfepartner)
Beeinträchtigte Kinder haben genau wie gesunde Kinder das Recht auf Schule (Foto: Kindernothilfepartner)
Cristina Higa vom Kindernothilfe-Partner Aynimundo in Lima macht das einfach nur wütend. Für sie stellt dieses Fehlen von Bildungs- und Integrationsmöglichkeiten eine gravierende Kinder- und Menschenrechtsverletzung dar, „mit der diese Gesellschaft und die politisch Verantwortlichen in diesem Land eine himmelschreiende Ungerechtigkeit begehen – und dabei immer noch nicht verstehen, was all diese Kinder und Jugendlichen einbringen und wie sie das Gemeinwesen bereichern können!“ Für Aynimundo - 2001 von engagierten jungen Architekten gegründet, um zusammen mit den Menschen in den pueblos jóvenes, den nach Landnahmen entstandenen Armenvierteln im Süden Limas, Nachbarschaftsprojekte umzusetzen, urbane Infrastruktur zu verbessern, Lebensqualität zu schaffen - wurde im Lauf der Jahre das Engagement für die Rechte von Kindern mit Behinderungen und die Unterstützung ihrer Familien zum Markenkern, zur zentralen Arbeitsaufgabe. Der Name Aynimundo – zusammengesetzt aus dem Quetchua-Wort ayni, das in der andinen Kosmovision für die Prinzipien Gegenseitigkeit, Gleichheit und Gerechtigkeit steht, und dem spanischen mundo (Welt) – ist dabei Programm und Richtschnur.
 

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Geschicklichkeitsübung: Rosa ist mit Feuereifer dabei (Foto: Ilse Kreiner)
Geschicklichkeitsübung: Rosa ist mit Feuereifer dabei (Foto: Ilse Kreiner)
Geschicklichkeitsübung: Rosa ist mit Feuereifer dabei (Foto: Ilse Kreiner)
Geschicklichkeitsübung: Rosa ist mit Feuereifer dabei (Foto: Ilse Kreiner)
Peru durchlebt seit der spektakulären Verhaftung und Amtsenthebung von Präsident Pedro Castillo im Dezember 2022 politisch extrem schwierige Zeiten. Zunächst lähmten monatelang Proteste und der äußerst brutale Einsatz der Polizei mit über 70 Toten das Land. Noch immer haben sich vor allem die Menschen in den Armenvierteln nicht von den verheerenden sozialen Folgen der Corona-Pandemie und den Verwüstungen der Unwetterkatastrophen in 2023 erholt. Und zuletzt sorgte eine Razzia im Haus von Übergangspräsidentin Dina Bolouarte, bei der es wieder einmal um Korruption und unrechtmäßige Bereicherung ging, für weltweites Aufsehen. Warum treibt das  Aynimundo-Team gerade jetzt das Projekt einer großen Schule für Kinder mit und ohne Behinderungen voran?

Verónica Rondón: Wir haben in diesen zurückliegenden 23 Jahren gelernt, immer unter Krisenbedingungen und mit politischen und ökonomischen Widrigkeiten zu arbeiten. Auf bessere Zeiten zu warten, bringt nichts. Von diesem Projekt einer inklusiven, humanistischen, demokratischen Schule haben wir so viele Jahre geträumt! Als uns jetzt die Möglichkeit angeboten wurde, auf dem gleichen Terrain in Chorillos, auf dem wir Ende 2022 die Bauarbeiten an dem neuen Aynimundo-Therapiezentrum für 230 Kinder und Jugendliche und ihren Familien abschließen konnten, eine inklusive Schule einzurichten, mussten wir einfach zugreifen! Für uns ist es angesichts des notorischen Fehlens von Bildungs- und Förderangeboten für Kinder mit Behinderungen in den ärmeren Vierteln hier im Süden von Lima einfach konsequent und logisch, dass wir diese Herausforderung annehmen!

Cristina Higa: Ein ganz starke Antriebsfeder, uns auf diese Aufgabe einzulassen, ist das, was uns die Eltern der Kinder, mit denen wir therapeutisch arbeiten, sagen: Sie schildern uns, wie oft sie abgewiesen werden, wenn sie in einer Schule im Viertel nach einer Möglichkeit suchen, um ihre Kinder einschreiben zu können. Und, falls es dann doch gelingt, kann von einer inklusiven Förderung ganz oft keine Rede sein. Die Lehrerinnen und Lehrer sind vielfach völlig überfordert, diesen Mädchen und Jungen mit ihren besonderen Bedürfnissen gerecht zu werden, die Klassen zu groß, die Ausstattung der Schulen zu prekär und viele der anderen Eltern aggressiv-ablehnend. Deshalb wollen wir – ähnlich wie durch das Therapiezentrum – deutlich machen: Ein anderes, Kinderrechte-basiertes inklusives Arbeiten mit Mädchen und Jungen mit und ohne Beeinträchtigungen ist nicht nur möglich, sondern wird als Modellprojekt auch auf andere Schulen ausstrahlen! Was uns unserer Sache so sicher macht, ist nicht zuletzt die jahrelange professionelle Erfahrung unseres Teams.
 

 
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Inklusions-Projekt vom Kindernothilfe-Partner Aynimundo in Lima (Foto: Ilse Kreiner)
Für Rosa sind die Gewürzpflanzen immer noch etwas Außergewöhnliches, aber seitdem sie seit zwei Monaten aktiv an dem Kurs teilnimmt, hat sie schon große Fortschritte gemacht. Rholf braucht wegen seiner Cerebralparese den Rollstuhl. Damit wird er überall hin mitgenommen und bekommt die gleiche Zuwendung und Aufmerksamkeit.
Inklusions-Projekt vom Kindernothilfe-Partner Aynimundo in Lima (Foto: Ilse Kreiner)
Für Rosa sind die Gewürzpflanzen immer noch etwas Außergewöhnliches, aber seitdem sie seit zwei Monaten aktiv an dem Kurs teilnimmt, hat sie schon große Fortschritte gemacht. Rholf braucht wegen seiner Cerebralparese den Rollstuhl. Damit wird er überall hin mitgenommen und bekommt die gleiche Zuwendung und Aufmerksamkeit.
Beim Bau des 2022 fertig gewordenen neuen Therapiezentrums von Aynimundo hattet Ihr mit absurden bürokratischen Hürden und Schikanen sowie ständigen Schmiergeldzahlungs-Forderungen von Leuten aus den zuständigen Behörden zu kämpfen. Seht Ihr eine Chance, dass es mit dem Schulprojekt anders laufen wird? 

Verónica Rondón:
Genau diese bitteren Erfahrungen haben uns gezeigt, dass es am Ende doch möglich ist, eben nicht in die Korruptionsfalle zu tappen, uns nicht erpressen zu lassen, sondern hartnäckig zu unseren Werte wie ethisches Handeln, Transparenz und Professionalität zu stehen. Dabei sind wir nicht allein: César, ein langjähriger Kollege aus dem Aynimundo-Team, arbeitet jetzt seit drei Jahren im peruanischen Erziehungsministerium. Er und viele andere engagierte Menschen - auch in staatlichen Institutionen - ermutigen uns, mit der Kraft unserer Argumente und unserer Expertise für unser Konzept zu kämpfen und uns bei der Beantragung der notwendigen staatlichen Genehmigungen nicht erpressen zu lassen.
 
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Mädchen und Jungen aus Haiti sitzen auf dem Foto. Fast die Hälfte der knapp drei Millionen Mädchen und Jungen leidet unter akutem Hunger. Schulen sind geschlossen und die Gewalt gegen Kinder nimmt verheerende Ausmaße an. (Foto: Erhard Stückrath/Kindernothilfe)
Der 16-jährigen Medaly gelingt es mühelos, Gewürzpflanzen zu identifizieren. Das Zeichnen ist schon anstrengender (Foto: Ilse Kreiner)
Mädchen und Jungen aus Haiti sitzen auf dem Foto. Fast die Hälfte der knapp drei Millionen Mädchen und Jungen leidet unter akutem Hunger. Schulen sind geschlossen und die Gewalt gegen Kinder nimmt verheerende Ausmaße an. (Foto: Erhard Stückrath/Kindernothilfe)
Der 16-jährigen Medaly gelingt es mühelos, Gewürzpflanzen zu identifizieren. Das Zeichnen ist schon anstrengender (Foto: Ilse Kreiner)
Ihr habt immer wieder gesagt, dass Eure Arbeit mit dem Grad der engagierten Mitwirkung der Familien stehen und fallen würde. Gerade beim Engagement mit Kindern mit Behinderungen ist dieses Verantwortung-Übernehmen von Müttern und Vätern, die ständig für das schiere Über-die-Runden-Kommen ihrer Familien kämpfen müssen, möglicherweise noch schwieriger zu erreichen. Was braucht es dafür an Voraussetzungen?

Cristina Higa: All die Jahre über haben wir gesagt, dass ohne die aktive und kontinuierliche Mitwirkung der Familien die Therapiearbeit mit den Kindern nie ihre volle Wirkung entfalten wird. Trotzdem gab es immer wieder Familien, die nicht mitgearbeitet haben. Wir mussten aber lernen, dass die notwendigen Veränderungen in der Familie stattfinden müssen! Die qualitativ tollste Arbeit im Projekt mit den Kindern funktioniert nicht, wenn am Ende die Familien nicht davon überzeugt sind, dass sie die Entscheidungen fällen und die Verantwortung tragen. Das ist auch eine Riesenherausforderung für uns als Team: Immer wieder ertappen wir uns dabei, den Eltern und Familienangehörigen Entscheidungen ab- und statt ihrer Verantwortung zu übernehmen. Nichts ist in unserem Beruf so schwierig, wie sich von assistentialistischen Praktiken zu lösen. Wir haben deshalb für uns als Team externe Unterstützung gesucht, um hier bewusster zu arbeiten, zu lernen, konsequent zu sein, wenn wir sagen: Unser Ansatz ist familienzentriert - aber unsere Rolle ist nicht die von Ersatzeltern, sondern die von Ermutigerinnen, Befähigerinnen. 

Ilse Kreiner:
Das ist manchmal richtig schwer! Ich habe hier bei Aynimundo gelernt, wie wichtig es ist, nicht vorschnell irgendwelche Ratschläge zu geben, sondern mich auch in Situationen zurück zu halten, in denen ich glaube, zu wissen, wie es geht. Aber wir können das trainieren. Zu der Herausforderung, den Teufelskreis des Assistentialismus zu durchbrechen, zu erreichen, dass die Menschen, mit denen wir arbeiten, sich nicht von uns abhängig fühlen, sondern sich ihrer Potentiale bewusst sind, gehört auch noch ein anderer Aspekt: Die Kinder und Jugendlichen im Projekt zu bestärken, selbst Entscheidungen zu fällen und innerhalb ihrer Familien eine andere Rolle zu spielen.

Wie kann das konkret funktionieren? 

Ilse Kreiner: Ich habe vor ein paar Tagen in einem Workshop mit schwer behinderten Kindern und Jugendlichen eine faszinierende Erfahrung gemacht: Wir haben uns in einer Gruppe mit sieben jungen Menschen mit Pizzabacken beschäftigt. Während ansonsten bei diesen Kursen Eltern mit dabei sind und die Kinder bei jeder Frage, jeder Aktion darauf warten, dass die Erwachsenen für sie Entscheidungen fällen, haben wir diesmal gesagt: Liebe Eltern, lasst uns das mal alleine machen, wartet draußen. Und es hat hervorragend funktioniert, die Mitglieder der Gruppe entschieden untereinander, wie die einzelnen Arbeitsschritte aussehen sollen, wer was macht, was auf die Pizzen draufkommt. Wenn es nicht mit Worten ging, arbeiteten wir mit smileys. Auch die beiden Kinder mit den stärksten Beeinträchtigungen waren konzentriert bei der Sache. Mir ist in dieser spielerischen Situation klar geworden, wie wichtig es ist, dass wir Erwachsenen lernen, auch loslassen zu können, den Helikopter im Hangar stehen zu lassen. Diese andere Art von Verantwortung, von der wir sprechen, bedeutet: Erst, wenn ich definiert habe, was ich brauche, kann ich Hilfe erbitten, aber eben nicht vorher! Und, was gar nicht geht, ist, dass wir als die Mitarbeitenden im Projekt für die Menschen, die hierherkommen, entscheiden, was sie benötigen.
 
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Für den 12 jährigen Mauro ist das Zeichnen einer Linie eine Herausforderung. Aber mit Anleitung und Geduld gelingt es (Foto: Ilse Kreiner)
Für den 12 jährigen Mauro ist das Zeichnen einer Linie eine Herausforderung. Aber mit Anleitung und Geduld gelingt es (Foto: Ilse Kreiner)
Für den 12 jährigen Mauro ist das Zeichnen einer Linie eine Herausforderung. Aber mit Anleitung und Geduld gelingt es (Foto: Ilse Kreiner)
Für den 12 jährigen Mauro ist das Zeichnen einer Linie eine Herausforderung. Aber mit Anleitung und Geduld gelingt es (Foto: Ilse Kreiner)

Von Jürgen Schübelin

Der Sozialwissenschaftler leitete 21 Jahre das Kindernothilfe-Referat Lateinamerika und Karibik. Auch im Ruhestand engagiert er sich weiter für Kinder und ihre Rechte.

Ilse Kreiner ist studierte Physikerin und pensionierte Betriebswirtin aus Perchtoldsdorf in Niederösterreich, die sich seit fünf Jahren regelmäßig im Rahmen des Kindernothilfe-Lern- und Freiwilligenprogramms bei Aynimundo engagiert, um mit Müttern von Kindern mit Behinderungen zu arbeiten. Dabei geht es ihr vor allem darum, kreative einkommensschaffende Initiativen zu unterstützen, mit denen die Frauen für sich und ihre Kinder den Lebensunterhalt sichern können.

Verónica Rondón ist Architektin und gründete 2001 die Nichtregierungsorganisation Aynimundo mit, die seit 17 Jahren Kindernothilfepartner in Perus Hauptstadt Lima ist.

Cristina Higa ist Koordinatorin des Inklusionsprogramms von Aynimundo,

 


 
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