Das Schweigen brechen
Gewalt ist ein Tabuthema, auch im muslimisch geprägten Indonesien. Schläge und sexuelle Übergriffe geschehen oft hinter verschlossenen Türen, die Opfer sind meist Mädchen und Frauen. Unser Partner PKPA hilft ihnen dabei, über die Taten zu sprechen und ein neues Leben zu beginnen.
Mit gesenktem Blick sitzt das Mädchen auf der Rückbank des Autos und starrt auf seine Hände. Die Hände einer Zwölf-, vielleicht 14-Jährigen. Untersuchungen im Krankenhaus, Befragungen bei der Polizei – was in ihrem Kopf vorgehen muss? Endlich kann sie nach Hause. Und vielleicht vergessen, weitermachen. Irgendwann.
Zwei Monate sind vergangen, seit eine Freundin das Mädchen gemeinsam mit ihrem Onkel bedrängt und sexuell genötigt hat. Zwei Monate des Schweigens, der Scham. Zwei Monate voller Angst. „Jetzt hat sie sich getraut, die Menschen anzuzeigen, die ihr das angetan haben“, sagt Rizka Harefa. Unser Wagen hält vor einem blaugrün angestrichenen Haus in einer Seitenstraße – dem Drop-in-Center und Büro von PKPA in Gunungsitoli, Hauptstadt der indonesischen Insel Nias. Derzeit lebt niemand im Schutzhaus der Hilfsorganisation, für die Harefa arbeitet. „In Notsituationen bringen wir Gewaltopfer hier in Sicherheit“, erklärt die junge Frau.
Gewalt gegen Kinder ist ein großes Problem auf Nias
Pusat Kajian dan Perlindungan Anak (Lern- und
Kinderschutzzentrum), kurz PKPA, ist Partner der
Kindernothilfe und macht sich auf Nias, einer Insel
mit etwas mehr als 750.000 Einwohnern an der
Westküste vor Sumatra, für Kinderrechte und gegen
ausbeuterische Kinderarbeit stark. Immer wieder
setzen sich die Mitarbeitenden auch für Opfer von
Gewalt ein. „Allein zwei Kollegen kümmern sich bei
uns um Missbrauchsfälle“, sagt Chairidani Purnamawati,
Leiterin von PKPA auf Nias.
Sexualisierte, psychische, körperliche Gewalt: 166 Fälle registrierte PKPA im vergangenen Jahr, die Dunkelziffer liegt wohl weit darüber. In 133 Fällen waren Männer die Täter. „Gewalt gegen Kinder und Frauen ist ein großes Problem auf Nias“, betont Purnamawati. Und nicht nur dort, sondern überall in Indonesien, so wie in vielen Ländern Süd- und Südostasiens. „Frauen wird beigebracht, die Beziehungen zu pflegen und den Frieden in der Familie zu erhalten. Die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen häusliche Gewalt anzeigen, ist niedrig“, sagt Urvashi Gandhi, Direktor von Global Advocacy at Breakthrough India, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für die Förderung von Mädchen und Frauen engagiert, in einem Interview mit der Deutschen Welle.
Bei einer Anzeige würde das Mädchen umgebracht
Zwei Jahre lebt das Mädchen im Schutzhaus von PKPA, in dem es für Notfälle immer einige liebevoll eingerichtete Räume mit Kuscheltieren und bunt bezogenen Betten gibt. Danach zieht es in ein Wohnheim, geht zur Schule. „Der Onkel drohte damit, seine Nichte umzubringen, wenn wir ihn anzeigen“, erinnert sich Purnamawati. Rückschläge wie diesen gebe es immer wieder in ihrem Job, in vielen Fällen gelinge es aber, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen: „Wir unterstützen die Opfer dann bei der Polizei und Vorgericht, bei Untersuchungen im Krankenhaus. Zu unseren Aufgaben gehört Mediation auf allen Ebenen.“
Nicht immer habe die Zusammenarbeit mit der Polizei gut funktioniert, den Einfluss als lokale Kinderhilfsorganisation mussten sich Chairidani Purnamawati und ihre Kollegen hart erkämpfen. Dazu gehört immer wieder auch Überzeugungsarbeit bei der Regierung. „Inzwischen haben wir im indonesischen Recht durchgesetzt, dass Kinder nicht von der Polizei befragt werden dürfen, ohne dass ein
Erwachsener dabei ist. Und die Polizei muss uns jeden Missbrauchsfall auf der Insel melden.“
Daneben vertritt PKPA die Rechte von jungen, meist männlichen Straftätern: „In Indonesien können Kinder ab einem Alter von zwölf Jahren ins Gefängnis kommen.“ Für Gewalt-, aber auch für Drogendelikte oder Diebstahl. „Wir setzen uns dafür ein, dass Jungen von erwachsenen Straftätern getrennt werden und dass ihr Fall, sollte er vor Gericht kommen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt wird“, erklärt Purnamawati.
Nicht immer sind die Gewalttäter männlich
Sofa und Schreibtisch sind die einzigen Möbelstücke, in dem großen Raum wirken sie verloren. Der Boden ist gefliest – Luxus. Mit Rizka Harefa sitzen wir im Wohnzimmer des Bürgermeisters eines kleinen Dorfes, rund 40 Fahrminuten von der Hauptstadt Gunungsitoli entfernt. Die Fahrt dorthin, über schmale ungeteerte Straßen, vorbei an sattgrünen Reisfeldern und Bananenstauden, ist atemberaubend. Auch die Armut der Menschen im Dorf lässt einem den Atem stocken. Sechs, sieben, acht Personen oder mehr leben in den kleinen kargen Hütten, in denen es oft nicht mehr als zwei Räume mit ein paar Plastikstühlen, keinen Strom und einfach nicht genug Platz gibt. In einem dieser Häuser wohnt die neunjährige Ayu mit ihren vier jüngeren Geschwistern, ihrem Vater und seiner neuen Frau. Ayus Mutter ist gestorben, ihr Vater hat wieder geheiratet.
Ayu hat dunkle traurige Augen; mit ihrem kurzen schwarzen Haar sieht sie viel jünger aus. Auf dem Foto, das uns die Frau des Bürgermeisters auf ihrem Handy hinhält, hat Ayu ein blutunterlaufenes Auge, eine Gesichtshälfte ist angeschwollen. Ein anderes Bild zeigt den Bauch des Mädchens – übersät mit blauen Flecken. So sah Ayu aus, nachdem ihre Stiefmutter sie mit Prügeln für „ungezogenes Verhalten“ bestraft hatte.
Sintia wurde von ihrem Vater missbraucht
2006 habe sie neu geheiratet, die beiden Mädchen aus erster Ehe mitgebracht. „2014 fing die Gewalt an. Mein Mann ging nicht zur Arbeit und trank viel Alkohol. Dann fing er an, mich und die Kinder zu schlagen und zu bedrohen“, erinnert sie sich. „Wenn er getrunken hatte, wurde er zum Monster.“ Ester wird schwanger. Einmal. Zweimal. Verlassen will die 34-Jährige ihren Mann nicht – zu groß ist die Angst vor Ausgrenzung im Dorf. Eine geschiedene Frau mit vier Kindern? Im muslimisch geprägten, konservativen Indonesien ist das ein Tabu. „Ich habe versucht, unsere Probleme in der Familie zu lösen.“
Eines Tages habe er sie losgeschickt, um Zigaretten zu holen. Als Ester zurückkam, habe sie mit ansehen müssen, wie sich ihr Mann an Sintia verging. „Ich kann machen, was ich will, ich bin hier der Boss“, habe er gesagt und sie mit demTod bedroht, erzählt die Mutter. Sie nahm allen Mut zusammen und ging zur Polizei. Ihr Mann sei kurz darauf von der Insel geflüchtet – sicher fühlten sie und ihre Kinder sich in ihrem Heimatdorf trotzdem nicht mehr.