Zivilgesellschaftliche Beteiligung zur Umsetzung der SDGs in Österreich: die Realität hinter der Rhetorik
Die globalen, sozialen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit werden, wie auch die Berichterstattung über sie, laufend prekärer, komplexer und vernetzter. Unsere Lösungsansätze sind menschengemacht, wie auch die Herausforderungen selbst, haben sich über die vergangenen Jahrhunderte stetig weiterentwickelt und begründen sich in drei Konzepten mit unglaublicher Tragweite und Resonanz: Nachhaltigkeit, nachhaltige Entwicklung und sozial-ökologische Transformationen.
Nachhaltigkeit, Entwicklung und die SDGs
Die Suche nach ihren Ursprüngen führt uns zurück in das 18. Jahrhundert, in die deutsche Forstwirtschaft und zu Hans Carl von Carlowitz, der auf die Holzknappheit seiner Zeit reagierte. Ob Carlowitz nun der Erfinder der Nachhaltigkeit oder zumindest des Begriffes ist, sei dahingestellt. Unumstritten jedoch ist, dass er mit seinen neuartigen Überlegungen eine Vorreiterrolle in der Entstehung des Konzeptes einnimmt. Die Suche führt uns weiter zu Ökonomen wie Ricardo, Malthus, Mill, zu den Fettproben der Adeliepinguine, zur bahnbrechenden Publikationen vom Club of Rome und schließlich zu Indira Ghandi, die bei der ersten internationalen Konferenz der Vereinten Nationen zur menschlichen Umwelt 1972 in Stockholm mit ihrer Rede versuchte, die Zusammenhänge zwischen Süd und Nord, Armut und Ökologie, Entwicklung und Nachhaltigkeit aufzuzeigen:
„Are not poverty and need the greatest polluters?“ (Gandhi, 1972)
Beflügelt von moderatem bis starkem Südwind, löste sie bewusst oder unbewusst die Suche nach einem Konzept aus, das wir heute nachhaltige Entwicklung nennen. Seither wurden verschiedene Abkommen, Verträge und Agenden beschlossen, um diese Idee zu verfolgen und vor allem zu konkretisieren. Das bisher wohl ambitionierteste Vorhaben wurde 2015 von den 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen in New York unterzeichnet: die Resolution Transformation unserer Welt, die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Hauptbestandteil sind die 17 nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals - SDGs), die laut eigenen Angaben nicht nur nachhaltig und universell, sondern vor allem transformativ sein sollen.
Um die transformativen Wirkung nachhaltiger Entwicklung Realität werden zu lassen, bedarf es jedoch radikaler, struktureller Ansätze, die über den Tellerrand hinausblicken und nicht nur die Symptome, sondern die Ursachen der wachsenden Herausforderungen bekämpfen. Regierungen, die sich in neoliberalen und technokratischen Prinzipien begründen, haben Ihre Unfähigkeit, diesen Problemen entschlossen entgegenzutreten, in der Vergangenheit bereits mehrmals prominent unter Beweis stellen dürfen. Deshalb bedarf es, auch in Österreich, innovativer, kooperativer und sektorenübergreifender politischer Ansätze zur gesamtstaatlichen Koordination, die eine demokratische Einbindung der Wissenschaft und insbesondere der Zivilgesellschaft verfolgen. Die Transformationsagenda stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar. Im Hauptteil der Agenda wird besonderes Augenmerk auf die Rolle der Zivilgesellschaft in der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele gelegt.
Auch die österreichische Bundesverwaltung scheint sich der großen Bedeutung zivilgesellschaftlicher Beteiligung zumindest am Papier bewusst zu sein. In den meisten Veröffentlichungen des Bundeskanzleramtes (BKA) und Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten (BMEIA), die das Mandat zur Umsetzungskoordinierung der SDGs innehaben, wird die systematische Einbindung der Zivilgesellschaft sehr prominent dargestellt und als durchwegs erfolgreich beschrieben. Um die Realität hinter dieser Rhetorik zu erkunden, hat Ulrich Jakob Weber umfangreiche Nachforschungen über die Umsetzung der Agenda 2030 und die betriebenen Mitgestaltungsformate angestellt.
Umsetzung der SDGs in Österreich
Die österreichische Bundesverwaltung, die sich laut eigenen Angaben zwar bereits in den internationalen Verhandlungen zur Entstehung der Agenda 2030 erfolgreich einbrachte, hat jedoch nach 2015 einen eher langsamen Start zur Erreichung der SGDs hingelegt. Die ersten Jahre waren gezeichnet vom Mainstreaming-Ansatz, von einer isolierten Zielverfolgung in Abwesenheit zivilgesellschaftlicher Akteure, von unklaren Zuständigkeitsbereichen, von fehlenden Bestandsaufnahmen und Lückenanalysen, von sich wiederholender Rechnungshof-Empfehlungen und vor allem von der Inaktivität staatlicher Akteur*innen, die wohl auch der Kurz-Strache Regierungskrise geschuldet war. Frustriert von der Inaktivität der rigiden Bundesverwaltung, fühlten sich einige Vertreter*innen österreichischer NGOs gezwungen, SDG Watch Austria ins Leben zu rufen, um ihren Forderungen gemeinsam Gehör zu verschaffen und Druck auf die rigide Bundesverwaltung auszuüben. Heute besteht die Plattform aus über 230 Mitgliedsorganisationen und setzt sich auf ihrer Website, nach wie vor für eine “institutionalisierte, partizipative und transparente Einbindung aller Stakeholder, insbesondere der Zivilgesellschaft und der Perspektive von marginalisierten Gruppen“1 ein.
Erst durch die kooperative Erarbeitung des ersten Freiwilligen Nationalen Umsetzungsberichts im Jahr 2019 wurde in Österreich ein neuer Weg zur Erreichung der 2030 Agenda eingeschlagen. Die Bundesverwaltung nahm ihre koordinierende Funktion langsam wahr, neue Organisationseinheiten und semi-innovative Veranstaltungsreihen zur Einbeziehung der Zivilgesellschaft wurden ins Leben gerufen. Dazu zählen die SDG Dialogforen, die Thematischen Foren und die wiederholte kooperative Erstellung der Umsetzungsberichte, die einen Lernprozess für bedeutsame, effektive Mitbestimmung von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen angestoßen hat. Um demokratische Beteiligung der Zivilgesellschaft im Kern umzusetzen und nicht nur an der Oberfläche zu kratzen, ist eine reine Lernbereitschaft jedoch unzureichend und sollte von einer kritischen und systematischen Auseinandersetzung begleitet werden.
Die Partizipationsmechanismen der oben genannten Veranstaltungsreihen weisen instrumentelle wie auch normative Eigenschaften auf. Zivilgesellschaft wird von der Bundesverwaltung verbunden mit NGOs, Sozialpartnern und QUANGOs, nicht jedoch mit konkreten Bürger*innen. Entscheidungen über die Ansprüche auf Mitbestimmung begünstigen in erster Linie jene nicht-staatlichen Akteur*innen, die bereits Österreichs Arena der politischen Mitbestimmung betreten durften, und schließen alle anderen weiter aus. Dabei nimmt die österreichische Bundesverwaltung das Risiko in Kauf, bestehende ungerechte Machtverteilungen durch ihre unsystematische, technokratische Zuweisung von Partizipationsansprüchen zu reproduzieren und sogar zu vertiefen. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken und die Qualität der Beteiligungsmechanismen zu verbessern, sollte sich die Bundesverwaltung mit den Gegenüberstellungen Staat versus Zivilgesellschaft, Zivilgesellschaft versus Dritter Sektor, Demokratie versus Technokratie, sozial-ökologische Transformationen versus neoliberale Agenden, imperiale Lebensweise versus nachhaltige Entwicklung kritisch auseinandersetzen.
Darüber hinaus ist es Bundesverwaltung und Vereinten Nationen anzuraten, das Konzept der Stakeholder zu überdenken und es durch ein Konzept zu ersetzen, das auch losgelöst von kapitalistischen Märkten Anwendung findet. Sollten diese Auseinandersetzungen bereits stattgefunden haben, muss damit explizit umgegangen und sämtliche Überlegungen transparent und nachvollziehbar für alle Bürger*innen zugänglich gemacht werden.
Horizontale Beteiligungsprozesse sind eine tragende Säule zeitgemäßer demokratischer Systeme. Diese Prozesse haben, anders als die Agenda 2030, kein vorgesehenes Ende und sollten von der Bundesverwaltung als laufender Prozess vorangetrieben werden. Der absolute Erfolg der geschaffenen Beteiligungsstrukturen wird erst in den Jahren nach 2030 und den daraus resultierenden Folgeaktivitäten sichtbar werden.
Alle künftigen Regierungen Österreichs müssen den Mut aufbringen, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, Missstände zu problematisieren, eigenes Fehlverhalten einzugestehen, isolierte politische Prozesse aufzubrechen und radikale Lösungsansätze durch tiefgehende demokratische Beteiligung zu entwickeln. Um sicherzustellen, dass auf die schimmernden Lippenbekenntnisse der Vergangenheit tatsächlich transformative Schritte folgen, braucht es einen überparteilichen, ja sogar überstaatlichen Zugang, dessen Planungshorizonte nicht an die jeweiligen Legislaturperioden angepasst sind und die den wachsenden Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft gerecht werden. Koste es, was es wolle.
Von Ulrich Jakob Weber
Der Kindernothilfe-Mitarbeiter hat Socio-Ecological Economics and Policy an der Wirschaftsuniversität Wien studiert. Im Rahmen seiner Masterarbeit hat er sich eingehend mit zivilgesellschaftlichen Beteiligungsprozessen in Österreich befasst. Die dazu in einigen Interviews mit Vertreter*innen des Rechnungshofes und zivilgesellschaftlicher Organisationen in Österreich erhobenen Informationen sind in die Darstellungen eingeflossen.