Wahlen in Chile: Das Spiel mit der Angst
Ende Oktober geben 15,5 Millionen Wahlberechtigte in Chile wieder einmal ihre Stimme ab. Ob sie wollen oder nicht, sie müssen über insgesamt 2.915 Mandate* neu entscheiden, denn erstmals ist die Teilnahme auch bei den Kommunal- und Regionalwahlen verpflichtend. Für die verschiedenen politischen Lager im Land sind sie - gut ein Jahr vor der ersten Runde der Präsidenten-, Abgeordnetenhaus- und Senatswahlen - die Gelegenheit, Kräfte zu messen sowie Diskurse und Allianzen zu erproben. Ganz nebenbei geht es für sie auch darum, sich für den Kampf um die Macht im Land in eine möglichst gute strategische Ausgangsposition zu bringen. Mit welch‘ harten Bandagen diese Auseinandersetzung bereits seit Monaten geführt wird, wie es dabei den Menschen in Chiles Armenvierteln geht und welche Rolle bei alledem die Kinderrechte spielen, schildern José Horacio Wood und Claudia Vera von der Fundación ANIDE im Interview.
José Horacio Wood: Ja leider! Das kennen wir mittlerweile seit Jahrzehnten: Vor allem vor Wahlen werden durch die Medien die Ängste der Menschen davor, Opfer eines Verbrechens zu werden, massiv verstärkt. Das spielt sich nicht nur in den Boulevardzeitungen und auf den Social-Media-Plattformen, sondern vor allem auch im Fernsehen ab: Ich schätze mal, dass TV-Nachrichten in Chile zu weit mehr als der Hälfte aus sich immer wiederholenden Schreckensmeldungen über Gewalttaten, Überfälle, Schusswechsel und Bandendelikte bestehen. Ich möchte die eindeutig vorhandenen Kriminalitäts-Probleme, denen vor allem die Menschen in den Armenvierteln ausgesetzt sind, nicht relativieren, aber nach Kanada ist Chile immer noch das Land auf dem amerikanischen Doppelkontinent mit der niedrigsten Rate an vorsätzlichen Tötungsdelikten, derzeit 6,7 Fälle pro 100.000 Einwohner pro Jahr. Richtig ist, dass sich dieser Indikator nach dem Ende der Pandemiejahre verschlechtert hat, aber das, was uns in dieser Wahlkampagne – und auch bereits zuvor - als Zerrbild einer Alltagsrealität und als bewusstes Spielen mit den Ängsten der Menschen zugemutet wird, ist kaum auszuhalten.
Claudia Vera: Es ist notwendig, diese Nachrichten im Kontext zu sehen: Seit inzwischen elf Monaten werden in Chile durch Recherchen unabhängiger Investigativ-Journalisten und internationaler Medien nach und nach immer mehr Details des gigantischsten Korruptions- und Machtmissbrauchs-Skandals seit dem Ende des Pinochet-Regimes bekannt – mit dem Anwalt und Strippenzieher Luis Hermosilla im Epizentrum, in den vor allem Entscheidungsträger der Vorgänger-Regierung unter dem – Anfang dieses Jahres bei einem Unfall verstorbenen – Ex-Präsidenten Sebastian Piñera und seiner Rechts-Rechtsaußen-Regierungskoalition, Teile der Wirtschafts- und Finanzelite Chiles, aber auch eine erschreckend hohe Zahl von Richtern am Obersten Gerichtshof des Landes verstrickt sind. Je enger sich die Schlinge um den Kopf der Beteiligten aus den ehemaligen Pinochet-Parteien UDI und Renovación Nacional zieht, umso schriller und lauter wird die von ihnen orchestrierte Innere-Sicherheitsdebatte und die Anschuldigungen gegen die derzeitige Mitte-Links-Regierung unter Präsident Boric, nichts oder so gut wie nichts gegen die Kriminalität im Land zu unternehmen – und das, obwohl es durchaus Erfolge der Polizei bei der Bekämpfung der Bandenkriminalität gibt. Diese Ablenkungskampagne mündete zuletzt in ein von den Rechtsaußenparteien angestoßenes Impeachment-(Amtsenthebungs)-Verfahren gegen Chiles Innenministerin Carolina Tohá, das – so kurz vor den Wahlen am 26. und 27. Oktober - für viel Aufregung und Aufmerksamkeit in Medien und Öffentlichkeit sorgte, ehe es am Ende wegen seiner offensichtlichen Inkonsistenz in der Abgeordnetenkammer des Parlaments scheiterte.
José Horacio Wood: Wie zynisch dieses Spiel mit der Angst der Menschen, Opfer eines Verbrechens zu werden, ist, zeigt auch eine andere Episode: Nachdem es Spezialisten der chilenischen Kriminalpolizei zuletzt immer besser gelang, den Geldflüssen rund um die organisierte Drogen-Kriminalität im Land auf die Spur zu kommen und Geldwäsche-Schnittstellen offenzulegen, verweigerten sich die Rechts- und Rechtsaußenparteien im Parlament mit allen Mitteln dem Versuch der Regierung, nachhaltige rechtliche Grundlagen dafür zu schaffen, es Ermittlern nach richterlicher Anordnung zu ermöglichen, Bankkonten von Verdächtigen einzusehen. Bei dieser mit heiligem Furor geführten Verteidigung des Bankgeheimnisses selbst beim Verdacht auf schwerste Straftaten geht es in Wirklichkeit nur darum, die Geldflüsse der Superreichen vor den Augen der Strafverfolgungsbehörden zu schützen. Erwähnen sollten wir an dieser Stelle aber auch, dass sich unter den Kandidatinnen und Kandidaten der Rechts- und Rechtsaußen-Parteien für eine ganze Reihe von wichtigen Bürgermeisterposten Leute befinden, gegen die in der noch laufenden Amtszeit wegen Korruption und Machtmissbrauch ermittelt wird – und die jetzt keinerlei Problem damit haben, ausgerechnet mit dem Versprechen, für saubere Politik, Sicherheit und Ordnung in ihren Kommunen zu sorgen, Wahlkampf zu machen.
Claudia Vera: Es gibt in Chile ein neues Schimpfwort: octubristas! So bezeichnen Parteien und Medien aus dem rechten Spektrum diejenigen, die da ab Oktober 2019 protestierten. Weil die Erinnerung der Menschen und selbst ikonische Bilder an und aus den Tagen des estallido so schnell verblassen, ist es einfach, diese Aufbruchsbewegung als Ganzes als eine kurze Episode mit Chaoten und Gewalttätern als Protagonisten zu diffamieren. Die Probleme, um die es damals ging, wie die katastrophale Überschuldung der Familien, verursacht durch die Anstrengungen, den Schulbesuch und das Studium der Kinder in diesem durch und durch kommerzialisierten Bildungssystem zu ermöglichen, Altersarmut als Ursache des eklatante Versagens der aktienbasierten privaten Rentenversicherungen, die strukturellen Defizite bei der öffentlichen Gesundheitsversorgung und eine sich immer dramatischer zuspitzende Umwelt- und Klimakrise, sind mehr denn je akut, spielen aber leider in der Wahrnehmung einer Mehrheit der Menschen keine zentrale Rolle mehr. Eben deshalb ist es möglich, einen solchen Nebelkerzen-Wahlkampf zu führen, wie den, den wir gerade erleben.
José Horacio Wood: Dieses Ergebnis beim Verfassungsplebiszit von vor zwei Jahren, mit 61,8 Prozent Stimmen gegen einen Verfassungsentwurf, der endlich die Chance eröffnet hätte, Chile auf den Weg zu einem demokratischen, sozialen Rechtsstaat zu bringen, ist – neben dem Pinochet-Putsch vom 11. September 1973 – so etwas wie die Ur-Katastrophe unserer Generation. Weil dieses Referendum so dramatisch scheiterte, ist es denen, die für das ultraliberale Wirtschafts- und Finanzmodell - eingebettet in einen konservativ-autoritären Gesellschaftsrahmen - stehen, gelungen, die sozialen Bewegungen, die den Protest vom Oktober 2019 getragen und die Erarbeitung eines fortschrittlichen Verfassungsentwurf erkämpft haben, derart zu diffamieren und in den Schatten zu drängen. Einer der Sätze, den wir ständig zu hören bekommen, ist: ‚Das mit dem estallido war ein Moment kollektiven Wahnsinns, angestachelt von kriminellen Agitatoren‘. Und – auch weil es in den demokratischen politischen Parteien bis heute keine ernsthafte, selbstkritische Aufarbeitung des Scheiterns dieses Aufbruchsprozesses von 2019-2020 gibt - vertrauen Menschen und Initiativen, die sich für das Zusammenleben in den Stadtteilen, für den Schutz von Natur und Umwelt, für Frauenrechte, für die Belange der indigenen Gemeinschaften, für queere Communities oder die Rechte von Geflüchteten, Migrantinnen und Migranten einsetzen, diesen Parteien nicht mehr. Um es ganz ehrlich und nüchtern zu sagen: Aus unserer Perspektive gibt es derzeit keine Chance für einen neuen Verfassungsprozess und für einen Wechsel der politischen Rahmenbedingungen – auch nicht auf kommunaler und regionaler Ebene, selbst, wenn diese Veränderungen noch so dringend wären!
Claudia Vera: Wir bewerten als Fortschritt, dass jetzt endlich in Chile die gesetzliche Regelarbeitszeit schrittweise von 44 auf 40 Stunden in der Woche abgesenkt wird. Das bedeutet für viele Familien zumindest eine gewisse Entlastung. Positiv sehen wir auch die Anstrengungen des Bildungsministeriums – trotz erbitterten Widerstands der Parteien im rechten und Rechtsaußenlager im Parlament – das Instrument eines durch den Staat abgesicherten Studiendarlehens (CAE) mit einem reduzierten Zinssatz einzuführen, um Studierende und ihre Familien zumindest partiell vor Überschuldung und Kredithaien zu schützen. Zu erwähnen wäre ein weiterer wichtiger Entlastungsaspekt: Die Regierung hat die Zwangs-Zuzahlungen bei Arzt- und Krankenhausbesuchen von Menschen, die über das staatliche Basisversicherungssystem FONASA abgesichert sind, abgeschafft. Aber an einer anderen Stelle, die gerade für die Menschen mit niedrigem Einkommen so wichtig wäre, gibt es keinerlei Fortschritte: Bei der Reform des aktienbasierten Rentenversicherungs-Systems bei privaten Anbietern, in das Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gezwungenermaßen einzahlen müssen. Hier blockieren die rechten und konservativen Parteien im Parlament konsequent jeden Veränderungsversuch.
José Horacio Wood: Zu den Entwicklungen, die uns trotzdem Mut machen, gehört, dass viele Menschen ihre Fähigkeit, sich über Korruption und Machtmissbrauch zu empören, nicht verloren haben. Der caso Hermosilla, über den wir vorhin sprachen, hat bei ganz Vielen Indignation und Entsetzen ausgelöst. Das gilt im Lokalen auch für die Teams der Partnerprojekte von ANIDE und der Kindernothilfe Österreich, die dann, wenn sie im Alltag miterleben, dass beispielsweise bei Institutionen, Behörden oder Dienstleistern vor Ort gepfuscht oder zu Lasten der Menschen im Armenviertel manipuliert wird, protestieren, Widerstand leisten. Dieses Sich-Nichts-Gefallen-Lassen finden wir sehr beeindruckend, das ist - sozialwissenschaftlich formuliert - aktive Resilienz! Und die Teams in den Projekten haben dafür im Lauf dieser Jahre eine unglaubliche Kreativität entwickelt. Sie sehen sich – gemeinsam mit den Eltern der Kinder und Jugendlichen und der organisierten Nachbarschaft in den Vierteln – als erste Linie bei der Verteidigung gegen den Machtmissbrauch von Autoritäten – und auch ungerechtfertigter, exzessiver Polizeigewalt.
Claudia Vera: Es gibt jetzt seit Kurzem ein neues Rahmendokument der Regierung zur Kinderrechtspolitik, das das Ministerium für Soziale Entwicklung erarbeitet hat. Darin werden unter anderem Prioritäten für staatliche Antworten auf die wachsenden Fallzahlen von Gewalt gegen Kinder, für den Schutz von Kindern aus Flüchtlings- und Migrantenfamilien, und – ein Thema, mit dem wir uns seit der Corona-Pandemie besonders intensiv beschäftigten – für die ‚Nachhaltigkeit des Schulbesuches‘ beschrieben. Hinter diesem Begriff verbirgt sich die Sorge um Zehntausende von Kindern, die nach den Corona-Jahren nicht mehr in die Schulen zurückgekehrt sind und zu denen die Lehrerinnen und Lehrer jeglichen Kontakt verloren haben. Dass die Regierung, wenn auch sehr spät, dieses Problem so offen benennt, ist ein positives Signal, auch, wenn den betroffenen Kindern im Einzelfall noch immer kein konkretes Angebot unterbreitet wird. Einen Fortschritt bedeutet auch, dass es mit der Schaffung von Kinderrechtsbüros – Oficinas Locales de la Niñez – (OLN) auf lokaler Ebene vorangeht. Es gibt inzwischen Kommunen, in denen diese wichtigen Anlaufstellen gut funktionieren, in anderen hingegen noch gar nicht, weil die benötigten Ressourcen nicht zur Verfügung stehen. Hier hätten wir ein wichtiges Thema gehabt, das es in diesem zu Ende gehenden Wahlkampf verdient hätte, ernst genommen zu werden, es aber einfach nicht durch diese mediale Wand aus Nebelkerzen, von der wir sprechen, geschafft hat! Ein Ansporn mehr, um nicht locker zu lassen!
Von Jürgen Schübelin
Der Sozialwissenschaftler leitete 21 Jahre das Kindernothilfe-Referat Lateinamerika und Karibik. Auch im Ruhestand engagiert er sich weiter für Kinder und ihre Rechte.
Der Anthropologe José Horacio Wood arbeitet seit 1995 bei der Fundación ANIDE (Fundación de Beneficiencia de Apoyo a la Niñez Desprotegida), der Kindernothilfe-Österreich-Partner- und Koordinationsstruktur in Chile, und wurde 2001 zum Direktor dieser ökumenischen Stiftung berufen.
Seine Kollegin Claudia Vera ist Germanistin und seit 1991 bei ANIDE, bzw. der Vorgänger-Organisation Programa de Menores, als Programm- und Projektkoordinatorin engagiert. Claudia Vera begleitet und betreut seit vielen Jahren auch die Lern- und Freiwilligendienstleistenden des Bündnisses Evangelische Freiwilligendienste in Chile.
* Bei den Wahlen am 26. und 27. Oktober wird in Chile über sämtliche kommunale und regionale Mandate neu entschieden: 345 Bürgermeister, 2252 Gemeinderäte, 16 Regierungspräsidenten sowie 302 Abgeordnete der seit 2014 direkt gewählten 16 Regionalversammlungen zwischen Arica und Punta Arenas.