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Bildung in Äthiopien:"Die Bildungskrise ist fest in der Politik verankert"

Die Bilanz ist erschütternd: Nur fünf Prozent der Schülerinnen und Schüler in Äthiopien bestehen die Abschlussprüfungen nach der 12. Klasse. Die Folge: Leere Universitäten und immer mehr Schulabbrecher*innen, die keine Perspektive sehen. Aber warum sind die Ergebnisse so katastrophal? Und welche Unterstützung kann die Kindernothilfe in dieser Situation leisten? Ein Interview mit Teshalech Sibhatu, die seit vielen Jahren Landeskoordinatorin der Kindernothilfe In Äthiopien ist.

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Präsenzprüfung in Äthiopien (Foto: Kindernothilfepartner)
Präsenzprüfung in Äthiopien (Foto: Kindernothilfepartner)
Präsenzprüfung in Äthiopien (Foto: Kindernothilfepartner)
Präsenzprüfung in Äthiopien (Foto: Kindernothilfepartner)

Wieso ist die Bildungsqualität so schlecht? 

Teshalech Sibhatu: Vor etwa 20 Jahren unternahm die damalige Regierung große Anstrengungen, um den Zugang zur Bildung zu verbessern. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler und auch der Schulen stieg im Laufe der Jahre stetig an. Allerdings hat sich in dieser Zeit wenig an der Infrastruktur und in der Ausbildung der Lehrkräfte geändert. Es gab nicht mehr verfügbare Schulbücher, und es wurden auch nicht mehr Lehrkräfte ausgebildet. Zugleich begann aber ein Wettbewerb in der Bildung: Die Regionalregierungen wetteiferten um die größten Universitäten und die höchste Zahl der Studierenden: Die Zahl der Universitäten im ganzen Land wuchs von zwei auf 40 öffentliche und mehr als 120 private höhere Bildungseinrichtungen. Damit möglichst viele Jugendliche studieren können, mussten aber viele die Abschlussprüfungen in der Schule bestehen. 

Lediglich die Prüfungsordnung zu ändern, macht die Bildung aber noch nicht besser. 

Teshalech Sibhatu: Ganz genau. Ich denke, es ist richtig, dass die Regierung das Prüfungssystem geändert hat. Aber ohne die grundlegenden und strukturellen Probleme anzugehen, ist es so, als würde man einem schmutzigen Gesicht einen Spiegel vorhalten, es aber nicht waschen. Die Lösung, die die Regierung nun implementieren will, um keine leeren Universitäten zu haben, besteht darin, den gescheiterten Schülerinnen und Schülern ein Jahr "Nachhilfeunterricht" an der Universität zu geben. Aber das ist zum Scheitern verurteilt, denn jahrelang schlechte Bildung lässt sich nicht mit einem Jahr "Nachhilfeunterricht" ausgleichen.   

Welche Rolle spielen in der Situation die Dürre und der Bürgerkrieg im Norden des Landes?

Teshalech Sibhatu: Die Bildungskrise ist fest in der Politik verwurzelt, aber natürlich sind die Klimaveränderungen und der Bürgerkrieg zusätzliche Faktoren, die die Lage erschweren. Wenn Kinder Angst vor Überfällen der Rebellen oder Drohnenangriffen der Regierung haben, wenn sie mit leerem Magen zur Schule gehen, können sie sich schlecht konzentrieren und sind nicht sehr motiviert. 

Die Zahl der Schulanfänger ist immer noch groß, aber viele Kinder und Jugendliche schaffen es nicht bis zu einem Abschluss. Wieso brechen sie die Schule ab?

Teshalech Sibhatu: Die Gründe sind unterschiedlich:
- Armut spielt eine große Rolle. Kinder müssen daher oft zum Familieneinkommen beitragen und können nicht zur Schule gehen. 
- Bei den Mädchen ist die frühe Verheiratung ein großes Problem. Obwohl das gesetzliche Heiratsalter bei 18 Jahren liegt, gibt es Orte, an denen Mädchen bereits im Alter von neun Jahren verheiratet werden. 
- Oft ist auch der Schulweg zu gefährlich. Viele Kinder müssen lange Strecken zurücklegen und dabei Flüsse und Wälder durchqueren. Gerade Mädchen sind dabei verstärkt sexueller Belästigung ausgesetzt. 
- Das schulische Umfeld ist nicht einladend - viele Klassenräume sind baufällig, die Tische kaputt, oder es gibt gar nicht genug Tische. Viele Schulen haben auch kein Wasser und keine Toiletten.
- Wegen der schlechten Bildungsqualität sehen viele Familien im Schulbesuch eine Zeitverschwendung. Und die hohe Durchfallquote bei den Prüfungen fördert diese Haltung. 
- Außerdem fehlt oft die Perspektive: Denn auch mit einem Hochschulabschluss ist die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen sehr groß. 

Welche Unterstützung kann die Kindernothilfe geben, um die Situation zu verbessern und das Recht auf Bildung der Kinder zu stärken?

Teshalech Sibhatu: Die Kindernothilfe unterstützt vor allem Projekte, die Familien das Leben erleichtern, Armut lindern und die Voraussetzungen an den Schulen zu verbessern. Einige Beispiele: 
- Unterstützung von Bauern durch Förderung landwirtschaftlicher Praktiken oder Bereitstellung von Saatgut 
- Organisation von Selbsthilfegruppen, um Frauen wirtschaftlich, sozial und politisch zu stärken, damit sie das Leben ihrer Kinder verbessern können.
- Unterstützung bei der Ausbildung von Lehrern zur Verbesserung der Qualität der Bildung. 
- Investition in die Ausstattung von Schulen und Klassenzimmern, zum Beispiel durch die Bereitstellung von Tischen, Büchern oder Labormaterialien und die Einrichtung von Toiletten. 
- Förderung von Nachhilfeunterricht für leistungsschwache Mädchen und Buben.
- Schaffung von Angeboten frühkindlicher Bildung, die es in ländlichen Regionen und einkommensschwachen Gegenden in Städten bislang nicht gibt.
- Förderung der Zusammenarbeit mit Gemeinden und lokalen Ämtern, um Eltern dazu zu bewegen, ihre Kinder zur Schule zu schicken.

Was hat Sie in jüngster Zeit bei Ihrer Arbeit bewegt?

Teshalech Sibhatu: Zu den Situationen, die mich schockiert haben, gehören ein Klassenzimmer, in dem eine Wand nach innen eingestürzt ist, Fünftklässler, die nicht in ihrer eigenen Sprache lesen und schreiben können, oder Kinder, die körperlich bestraft werden. Vieles hat mich aber auch positiv beeindruckt: Kinder, die sich in Komitees oder anderen Gruppen organisieren und für ihre Rechte kämpfen, oder Lehrkräfte, die von ihren eigenen geringen Gehältern Schulmaterial für arme Kinder finanzieren. 

Haben Sie Hoffnung in der aktuellen Situation?

Teshalech Sibhatu: Es ist schwer, Hoffnung zu empfinden, wenn es keinen Fahrplan gibt, wie man den Frieden in diesem Land wiederherstellen kann. Ich habe aber schon Hoffnung, wenn ich mit jungen Müttern spreche, die selbst Analphabeten sind, aber die beste Ausbildung für ihre Kinder wollen. Und ich habe Mut, wenn weiter in den von der Kindernothilfe unterstützten Projekten in Konfliktgebieten sind, um die Not vor Ort zu lindern.

Was wünschen Sie sich für die Kinder in Äthiopien?

Teshalech Sibhatu: Ich wünsche mir, dass die gewaltsamen Konflikte aufhören, die Kinder in Frieden leben können und genug zu essen haben. Und natürlich wünsche ich mir, dass sie Zugang zu einem Bildungssystem haben, das nicht ihre Zeit vergeudet, sondern ihnen die Möglichkeit gibt, Wissen zu erwerben, damit sie eine Perspektive für die Zukunft bekommen. 

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Über die Autorin

Portrait Annette Kuhn (Quelle: Privat)
Annette Kuhn ist Redakteurin für politische Kommunikation bei der Kindernothilfe.

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